Peter Geist Asphodelen im Kühlschrank Michael Braun/ Hans Thill (Hrsg.): Das verlorene Alphabet. Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre, Heidelberg 1998 (Wunderhorn) Er ist kaum zu überhören, der Nichtlärm auf den launischen Feldern der lyrischen Schulen und poetologischen Theorien in den neunzigern. Nicht mehr tritt an das kurze gegen das lange, das engagierte gegen das absolute, das postmodern zerstreute gegen das hochmodern konzentrierte Gedicht, und wo denn in den letzten Jahren in Rundschauen und aus Wespennestern heraus noch zu rechten versucht wurde über die einzig wahren und möglichen Weisen, gegenwärtig trefflich zu dichten, stellte sich schnell jener schale Eindruck fingerschnipsender Lautheit her, mit der die Geltungsweite der verwendeten Wortwurfgeräte hochzumogeln versucht wird. So wie die meisten Rüstbegriffe der Avantgarden rostig geworden sind, so wenig taugen etwa die Imperative der permanenten sprachlichen Grenzüberschreitung noch zum Herausarbeiten von qualitativen Bestimmtheiten dessen, was als gutes Gedicht gilt.gelten kann. Insofern war die Jörg-Drews-Anthologie „Das bleibt“ (1995) eher als amüsante Provokation zu lesen, die allerdings um Jahre zu spät kam, um noch Debatten auszulösen. Es hat sich herumgesprochen: die formalen Vorwärtsbewegungen scheinen an einen Endpunkt gelangt zu sein, von dem aus allerdings mit den Beständen gespielt wird, neu kombiniert und lustvoll zitiert. So entsteht der Eindruck, die Avantgardismen seien „in ihr galantes Stadium eingetreten. Hier bringen sie dem vom Lärm überströmten Zeitgenossen ihr feines nervliches Knistern zu Gehör.“ So gebe „nicht mehr der Stammesepiker, der Höfling, der rasende Patriot den Ton an, jetzt spricht das einzelne lahme Untier, der Übelsänger, der Parasit. Und was er sagt, führt hier und da zu stiller Verzückung, vielleicht zum Duell unter Künstlern, oder es bleibt in den Spalten der Feuilletons kleben.“ Soweit Durs Grünbein. Aber heißt das auch, daß die existentiellen Not-Wendigkeiten verhallt sind, die auf die Beweggründe, sich versförmig in die Welt zu halten, verweisen? Daß nun vor allem die Sprachperlenspieler, Lautsägenarbeiter und effektorientierten Monteure fürs Vers-Sagen haften, gemäß der flittrigen Pop-Parole „Design statt Sein“? Insofern war ich gespannt, welche Akzente Michael Braun und Hans Thill setzen würden, hatten beide doch bereits vor über zehn Jahren in „Punktzeit“ eine lyrische Bilanz der achtziger Jahre zusammengestellt. Michael Braun stellt gleichwohl die unüberlesbaren „Materialermüdungen“ an den Beginn seines Nachwortes, und er konstatiert: „es dominieren die Reprisen, Rekonstruktionen, Übermalungen und kunstvollen Fortschreibungen....Die neunziger Jahre in der Lyrik sind ein Jahrzehnt der Kontinuitäten und Ausdifferenzierungen, nicht der Brüche und Nullansagen.“ Dieser Satz, den ich zögerlich unterschreiben muß, soweit er sich auf die getroffene Auswahl bezieht, macht aber auch ein Spannungsfeld sichtbar: Denn großgeschichtlich blieb in diesem Jahrzehnt außerhalb Westdeutschlands kein Stein auf dem anderen: Je nach Perspektive Ab- und Durch- und Aufbrüche, auf alle Fälle aber Brüche. NachhängigesNachhängendes Bewußtsein spaziert also augenscheinlich lieber in den unbedrohlicheren Parzellierungen einer irgendwann in den achtzigern ausgerufenen „Posthistoire“? Während gerade viele Gedichte der aus der DDR kommenden Autoren belegen, daß da ein „Ich“ nicht nur mit Geschichten, sondern auch mit Geschichte als Plötzlichkeitserfahrung sich herumschlagen muß, ohne ins schlecht Allgemeine sich zu verflüchtigen. Dabei zeigt sich, daß in längerer Lebens- und Kunsterfahrung ausgeprägte Schreibweisen unter diese „Ausdifferenzierungen und Kontinuitäten“ fallen, doch nun ganz anderen Druckverhältnissen ausgesetzt worden sind. Das macht vielleicht auch resistenter gegenüber dengegen die Anmutungen gegenüber dem,dessen, was „der Markt“ jeweils als diskursiv anschlußfähig auszufiltern meint. Es ist schwer zu entscheiden, inwieweit die Aussagen über Fortschreibungen und Kontinuitäten abgeleitete Verallgemeinerungen sind, oder ob die intensiv durchgehaltene Begleitreflexion des Kritikers nicht schon Wahrnehmungsfilter gesetzt hat: Michael Braun gehört sicher zu den profunden Kennern noch entlegener Dichtungsbezirke unter dem Verweisungsnetz poetischer/poetologischer Topographiepunkte. Man konnte vorab sicher sein, daß er sein sicheres Gespür für Qualität unter Beweis stellt: Und so sind in dieser Anthologie viele Entdeckungen zu machen, ohne daß man befürchten müßte, ärgerlichen Kompromißverbeugungen an lyrilyrikähnliche Massenware von klischeetriefendem Schreibwerkstattskitsch bis zum modischen Trash-Gelaber zu stoßen. (Lediglich bei Klaus Hensel haben sich die Herausgeber arg vergriffen: „Figo Fago in Auschwitz“ stellt einen wohl postmodern gemeinten Relativismus der Geschmacklosigkeit aus, banalen Empirismus in der knirschenden Klammerung durch die Ortsnamen Auschwitz und Sarajewo als vorgebliche und vergebliche Entkrampfungsübung, wie sie gegenwärtig als feulletonistische Amnesien herumwalsern.) Ansonsten: Ein Querschnitt durch die deutschsprachige Gegenwartslyrik, der der Vielfalt der „ästhetisch eigensinnigen“ Stimmen Raum gibt, welche dem Leser eine „gleichwohl trotzig behauptete – Schönheit“ übereignen, von inständigen bzw. buchstäblichen Benennungsstrategien über phantasmagorische Entgrenzungen bis zu „melancholisch verschatteten Geschichtserzählungen“. Die ausgewogene Auswahl von Braun und Thill belegt wache Zeiteingelassenheit ebenso wie palimpsestöse Traditionsschulterung im Gedicht der neunziger Jahre. So weit: Hut ab. Überrascht hat mich das Kompositionsprinzip der Sammlung: Die Herausgeber sichteten nicht nach „poetischen Schulen oder literarischen Frontlinien“ (?), sondern bevorzugten eine poetische Konfrontationsstrategie nach der Motivbezüge: „durch die gezielt provozierten Kollisionen der unterschiedlichen lyrischen Temperamente soll jener komplexe poetische Organismus erfahrbar werden, der als `deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre` nur äußerst abstrakt bezeichnet ist.“(S.208) Keine Frage, die unterschiedliche Sprachverwandlung ähnlicher Motive wird im Nebeneinanderstellen augenfällig. Beim Lesen stellen sich Verdichtungseffekte dort ein, wo es Korrespondenzen gibt, einen gemeinsamen Resonanzboden, der die Texte miteinander verbindet, wie etwa im ersten Abschnitt „Mein Land“. Normalerweise ergeben sich Zusammen- oder Gegenklänge über Motivbezüge aber eher selten, auch kann kaum von einem „organisierten Widerstreit der lyrischen Schreibweisen“ die Rede sein. Die im Nachwort versammelten Argumente für ein gattungsfremdes Kompositionsprinzip sind wenig einleuchtend. Wenn unterschiedliche Texte zu Motivkomplexen wie Körper, Kindheit, Geschichte etc. nebeneinander stehen, erweisen sich die „gezielt provozierten Kollisionen der unterschiedlichen lyrischen Temperamente“ als eine Wunschvorstellung: erwarte ich doch von vornherein von Anthologie-Gedichten, daß sie markant unterschiedliche Behandlungsweisen eines äußeren Anlasses oder Motivs offenbaren. Warum also sollten die Texte miteinander kollidieren? Das wäre dann der Fall, wenn erkennbar wäre, daß Gedichte direkt und erkennbar aufeinander reagierten, in einer Zeit der allumfassenden Monadisierung ein eher unwahrscheinlicher Glücksfall. Dabei kommen Gedichte ja tatsächlich gemeinhin in Rudeln auf den Leser; nur haben sich die Herausgeber darauf verständigt, möglichst nicht mehrere Texte eines Lyrikers hintereinander stehen zu lassen. So etwas wie den intentionalen Kern des Schreibbegehrens, Grundworte oder Ideosynkrasien zu erahnen, fällt dementsprechend schwer, zumal in der Regel nicht mehr als drei Texte eines Autors aufgenommen wurden. Daß ich dann trotz der dadurch möglich gewordenen Dreistelligkeit der Autorenzahl einige Namen vermisse und einige in einer Jahrzehntbilanz deplaciert finde, ist nur scheinbar durch Verweis auf die selbstredend zu akzeptierenden Spielregeln des subjektiven Auswählens zu entkräften, wie sie noch jede Blütenlese neuester Literatur geprägt haben. Wichtige Gedichtbände in diesem Jahrzehnt sind unverdient unter den üppig beladenen Auswahltisch gefallen, so die von Franz Hodjak, Peter Gosse, Andreas Reimann, Rainer Kirsch, Richard Pietraß, Ulrich Zieger, Jörg Schieke, Heike Willingham, Steffen Mensching, Johannes Jansen, Thomas Böhme, Thomas Kunst, Andreas Koziol, Kathrin Schmidt, Undine Materni, Hendryk Gericke – ich finde, zu viele Nicht-Berücksichtigungen, aus welchen Gründen auch immer. Sind es die gewählten Anordnungs- und Auswahlprinzipien, die es erschweren, Trends auszumachen, dominante Bewegungsrichtungen in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik? Angesichts der Tatsache, daß die Vorgängeranthologie bereits 1987 erschien, halte ich den fehlenden Ehrgeiz, Dominanzverrückungen über immerhin fünfzehn Jahre wenigstens anzudeuten, für bedenklich. Die heftigen Lautverschiebungen und Tonstärken, die jüngere Lyriker etwa aus Köln und Ostberlin seit Mitte der achtziger Jahre in die Stimmenlagen deutscher Poesie einbrachten, bleiben seltsam ausgeblendet, wenn etwa Bert Papenfuß nur mit einem Gedicht vertreten ist und etliche Protagonisten, die durch anhaltende Produktivität jeden Modevorwurf längst entkräftet haben, überhaupt fehlen. Dafür versichern sich die behutsamen Hypothesen des Nachworts auffällig anthropologischer und psychologischer Grundlegungen der Poesie. So wird auf Urszenen poetischer Sehnsucht verwiesen, die durch die medientechnischen oder wissenschaftstheoretischen Kontexte ebenso wenig entkräftet seien wie durch den „Mittagsschlaf der Moderne“, als der die ideologisierte Postmoderne entschreckt wird. Um diese „Urszenen“ berühren zu können, arbeiten sich etliche Dichter durch die immer schon zeichenhaft aufgenommenen „Abblätterungen von der wirklichen Welt“, stets auf der Suche nach Bildern, „die wie gestochen sind“ (Oswald Egger), dem verlorenen „Urtext“ (Günter Eich). Insofern benennt der Anthologie-Titel auffällige Suchbewegungen in der Gegenwartsdichtung. Diese Suche ist für mich dort faszinierend, wo die Texte die Neugier des Unterwegssein, die energische Volte in die Vorläufigkeiten der Wort-Setzungen einspeisen. Ob dabei elegante „Biologische Walzer“ (Grünbein) getanzt werden oder über „helles schattnzeug/ der stimmen“ (kling) bzw. „gaumendünung“ (Pastior) sprachbeschleunigt wird – wenn diese Kontaktnahmen zu Hirnforschung oder Sprachetymologie „eindringliche(n) gesang“ (Kling) befördern, ist die Herkunft der Diskursanleihen eher nebensächlich. Daß diese Bewegungen die Aporien immer schon mit sich führen, weiß etwa der Hilbigsche „fußgänger“: „schwer fällts zurückzukehren aus dem unmaß/ der gedankenfreiheit/ wo die fragmente splittern/ verrückten kompaßnadeln gleich die antithesen wirbeln“ (S.18). Allzuoft aber zerstreuen sich diese Bewegungen – so ging es mir beispielsweise mit einigen Texten Oswald Eggers - prismatisch in endlos verfeinerten Brechungen: Dekonstruktionen, die germanistische Dispatchergemüte im Verschiebebahnhof der Tropen und Bedeutungsteilchen erfreuen mögen, den sinnlichen Glanz des Gedichts in der Wort(per)mutationsobsession allzuoft jedoch abreiben. Die Folge: Kalte Kunststücke, Phosphatlicht des Artifiziellen, übrigens auch in einigen vorgeblichen Naturstücken etwa von Raoul Schrott. Immer noch besser, beiseite gesprochen, als das ölige Kommunikationsdesign eines Dirk von Petersdorff, dessen missionarischer Essay-Eifer über den „neuen Menschen dieser Lyrik“ den späten Widergänger Shdanows unschwer erkennen läßt. Daß seine Stopfganslyrik sprachlicher Verdoppelung des Diskurs-Zappings unlängst mit dem Kleist-Preis gewürdigt werden konnte, ist Zeichen genug des Verschwimmens lyrikgeschichtlicher und –ästhetischer Maßstäbe. Da haben natürlich diejenigen deutschen Dichter schlechte Karten, die kein so „luftiges Ich“, wie von ihm gefordert, herzeigen können, vielleicht, weil sie einen Einbruch der Geschichte zu verarbeiten haben, der nicht ferngesehen wurde, sondern in die Fasern der Existenz schnitt. Der Stoiker Mickel mag lakonisieren: „Tuskische Goetter: Der Ostblock zerbroeckelt/ Unter mein Arsch“, die Gedichte von Heiner Müller, Volker Braun, Heinz Czechowski, Kurt Drawert, Harald Gerlach, Richard Leising gehen in die geschichtlichen Untergründe durchbrochener Biographien. Es ist der Blick in das vorläufige Grab der Utopie (Heiner Müller), der streng, gedrängt und von existenziellem Ernst getragen den Vers diktiert; von Gedichten, die „auf den Grund (sinken) zu den Verlorenen, nicht Entmutigten“ (Volker Braun). Es geht hier nicht nur um verlorene Alphabete. Unter den weiteren Gründen, warum das Blättern in der Anthologie mit Vergnügen belohnt werden kann, sei einer noch hervorgehoben: die verstreuten melancholischen bis sarkastisch verspielten, auf alle Fälle meisterlichen Winke von Vor-Bildnern wie Jandl, Mayröcker, Rühmkorf, Endler oder Pastior. Gewohnt beißend Endler („Indessen nicht der kleinste Seepapagei in meinem/ Scheiße-Gesamtwerk!“), parlandierend Rühmkorf („Alles Quack, wer der Welt zu tief ins Auge gesehn hat/ um noch an ihr leiden zu wollen,/ wird den Mangel an Service hier nicht so persönlich nehmen.“), im zitierenden Selbstbann (oder –benn) Enzensberger („Das MG-Feuer im Bankenviertel/ hat nachgelassen,/ Aber es sind noch ein paar/ Asphodelen da, im Kühlschrank,/ für alle Fälle.“). Wenn das kein Trost ist! |